Ausgabe 25/2014

Das gute Leben und die Freundschaft

Betrachtungen zum Spannungsfeld von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft.

Warum brauchen wir Gemeinschaft? Können wir unsere Freiheit nachhaltig erst in Gemeinschaft leben? Und wie müssten wir dafür unsere Lebensweise und Gesellschaft verändern?

Ein Blick in die Vor- und Frühgeschichte zeigt, dass der Mensch lange Zeit in Horden und Stämmen gelebt hat, dass er nur so überleben und sich entwickeln konnte. Erst mit fortschreitender Individualisierung wurden gemeinschaftliche Bindungen als Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden. Im westlichen Kulturkreis war Plato einer der ersten, der den entstehenden individualistischen Strömungen entgegentrat und erklärte, der Mensch sei konstitutiv auf seine Mitmenschen und die partizipatorische Gemeinschaft der Polis (Stadt) angewiesen. Aristoteles ging noch weiter: Die menschliche Kooperation ziele nicht nur auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse ab, sondern diene der Entwicklung des Gemeinwesens zu einem ethischen Zweck: »Es geht um das gute Leben und die Freundschaft!« Bis heute setzt sich diese Auseinandersetzung fort – aktuell zwischen Anhängern des Neoliberalismus und Befürwortern einer Gemeinwohlorientierung.

Gemeinschaft oder Gesellschaft?
Mit dem Aufkommen der kapitalistischen Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die »bedrohte Gemeinschaft« zum Hort des guten Zusammenlebens idealisiert. Gemeinschaft und Gesellschaft, bisher synonym gebraucht, wurden nun als Alternativen wahrgenommen. Die Romantiker beklagten die entstehenden Fabriken, das Massenelend in den Städten, die Verwandlung der menschlichen Beziehungen in funktionale und rechtliche Verhältnisse. Die utopischen Sozialisten experimentierten mit gemeinschaftlichen Siedlungen, die eine Alternative zu den ano­nymen Beziehungen der Gesellschaft aufzeigen sollten. Die Lebensreformbewegung propagierte eine natürliche Lebensweise und spürte in Siedlungen wie dem »Monte Verità« dem guten Leben nach.
Auch in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion gewann das Thema »Gemeinschaft« an Bedeutung. Der Philosoph Ferdinand Tönnies machte das Begriffspaar »Gemeinschaft und Gesellschaft« zur Grundlage der entstehenden Soziologie. Gemeinschaft war für ihn die organische Ordnung der menschlichen Beziehungen, Gesellschaft eine rationale Zweckveranstaltung. Gemeinschaft stand für Wärme, Geborgenheit und Liebe, Gesellschaft für Kälte, Distanz und Konkurrenz. Das eine war die Heimat, der man sich zugehörig fühlte, das andere die Fremde, in die man hineingeworfen wurde.
Helmuth Plessner, ein Zeitgenosse von Tönnies, wies dagegen auf die Grenzen von Gemeinschaft hin und warnte vor »sozia­lem Radikalismus«. Es bedürfe sowohl gemeinschaftlicher Nähe als auch gesellschaftlicher Distanz. Respekt und Toleranz, Reserviertheit und Höflichkeit ermöglichten einen zivilisierten Umgang mit dem Fremden. Formale gesellschaftliche Beziehungen schüfen erst die Spielräume für individuelle Selbstentfaltung. Auch so einflussreiche Soziologen wie Max Weber und Talcott Parsons betonten den Zusammenhang von Gemeinschaft und Gesellschaft: »Jede Handlung geht aus eine Mixtur gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Orientierungen hervor.« Es kommt auf die richtige Mischung an.
Die 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts sind ein warnendes Beispiel für den Missbrauch der menschlichen Gemeinschaftssehnsüchte. Je mehr die gewachsenen Solidarbeziehungen unter dem Ansturm der kapitalistischen Wirtschaftskrise zerbrachen, desto leichter fiel es radikalen politischen Strömungen, einen Gemeinschaftsmythos zu erfinden, um emotionalen Zusammenhalt herzustellen. Durch den Rückgriff auf einen gemeinsamen Ursprung, auf Tradition oder Schicksal (Volks-, Schicksals-, Klassengemeinschaft) wurde ein Prozess der kollektiven Identitätsbildung forciert, der durch Einordnung nach innen bei gleichzeitiger Abgrenzung nach außen wirkte. Die historische Entwicklung zeigt in Kommunismus und ­Faschismus brutal die Gefahren auf, die in einer Gemeinschaftsbildung durch Ausgrenzung liegen. So ist Gemeinschaft zum Teil bis heute mit dem Bild eines unterdrückenden Kollektivs oder einer hoffnungslos romantischen Sehnsucht verbunden.
In der neueren Sozialforschung wurde in den letzten Jahren die Bedeutung des Gemeinschaftlichen wiederentdeckt. Individualität und Gemeinschaft seien kein Gegensatz, denn nur in gemeinschaftlichen Zusammenhängen könnten Menschen ihre Persönlichkeit ausbilden und Verantwortung entwickeln. Um zu funktionieren, brauche die Gesellschaft das gemeinschaftliche »Sozialkapital«. Erst auf dem Boden geteilter Wertüberzeugungen und solidarischer Praktiken in gemeinschaftlichen Zusammenhängen seien Kooperations- und Tauschbeziehungen gesellschaftlich überhaupt möglich. So stellt sich die Frage: Wie kann das Gemeinschaftliche in modernen Gesellschaften gelebt und ausgeweitet werden – jenseits von traditionell-autoritären oder modern-kollektivistischen Formen von Gemeinschaft?

Das Bild neuer Gemeinschaften
Der Historiker Ulrich Linse sieht seit den 1970er Jahren eine geschichtlich neue Form, die »psychosoziale Gemeinschaft«, entstehen. »Sie steht und fällt mit ihrer Fähigkeit, das gesellschaftlich gestörte Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und Selbstverwirklichung auf der einen und dem gegenseitigen Austausch und der Solidarität auf der anderen Seite in ein neues harmonisches Gleichgewicht zu bringen.« Nicht mehr religiöse oder sozialreformerische Zwecke seien entscheidend, sondern Gemeinschaft werde als eine besondere Qualität des Miteinanders gesehen, die von Selbstverantwortung, Vertrauen, wohlwollender Anteilnahme und Unterstützung gekennzeichnet sei.
Diese Qualität ist prinzipiell als Her­ausforderung in allen Alltagsbeziehungen – Familie, Nachbarschaft, Kollegen- und Freundeskreis, Interessengruppen – vorhanden. Weil es jedoch immer schwieriger wird, ein gemeinschaftliches Miteinander im Alltag zu realisieren, haben sich teilweise schon in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts Gemeinschaftsprojekte gegründet, um forschend nach neuen Lebensmöglichkeiten zu suchen. Hier werden zu enge »identitäre« und ausgrenzende Konzepte gemieden. Vielmehr sind es freiwillige Zusammenschlüsse von Menschen, die Differenzen anerkennen, die Privatsphäre schützen und Einheit mit Vielfalt verbinden wollen. Sich solchen Gruppen anzuschließen, kommt nicht für jeden und jede in Frage. Stattdessen entstehen immer mehr gemeinschaftliche Netze, in denen Menschen zwar nicht ihren Alltag teilen, aber Projekte gemeinsam realisieren und auch nach vertieften Beziehungen suchen.
Eine neue Entwicklung ist auch die Ausbreitung virtueller Communitys. Hier drückt sich deutlich das Bedürfnis nach Austausch und Freundschaft aus. Der Individualismus vernetzt sich. Man kann anonym bleiben und weltweit kommunizieren. Man kann sich jederzeit ausklinken und neuen Gruppen beitreten. Ob aber auf diese Weise tiefere menschliche Bindungen entstehen? Mir ist noch nicht klar, ob diese virtuellen Welten ein Surrogat oder eine Brücke zu wirklicher Gemeinschaft sind. Vielleicht sind all die verschiedenen Formen nur unterschiedliche Aggregatzustände, die ineinander übergehen, um Freiheit wie Verbundenheit zu ermöglichen. Das scheint der Sehnsucht Kern zu sein.

Die gemeinschaftliche Gesellschaft
Die Sehnsucht nach einer gemeinschaftlichen Gesellschaft bis hin zur Weltgemeinschaft, in der die Menschen einander wie Geschwister und Freunde begegnen, wirkt bis heute fort. Sie ist das bisher uneingelöste Versprechen der Menschenrechte und zahlreicher philosophischer, politischer und religiöser Manifeste. Ihre Verwirklichung wurde den Regierungen anvertraut. Doch die sind dazu ohne eine starke, am Gemeinsinn orientierte ­Zivilgesellschaft nicht in der Lage.
Der ehemalige Bundesverfassungsrichters Böckenförde bringt es auf den Punkt: »Die freiheitliche Ordnung [erfordert] ein verbindendes Ethos, eine Art ›Gemeinsinn‹ bei denen, die in diesem Staat leben. Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann?«
Gemeinsinn entwickelt sich nur in der Alltagskultur, wenn Menschen am Leben anderer teilhaben, einander vertrauen und unterstützen. Dazu gibt viele Ansätze in Selbsthilfe- und Nachbarschaftsgruppen, in kommunalen und regionalen Zusammenschlüssen, doch oft fehlt es am Wissen, wie gemeinschaftliches Miteinander gelingt. Hier können die Gemeinschaftsprojekte mit langjähriger Erfahrung wertvolle Hilfe geben. Gemeinschaften können eine gemeinwohlorientierte Politik ebenso inspirieren wie eine Gemeinwohlökonomie, die sich in allen gesellschaftlichen Bereichen etablieren sollte. Die Zivilgesellschaft kann eine reale Demokratie schaffen, die gemeinschaftliches Denken, Fühlen und Handeln auch auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene ermöglicht.
Der italienische Philosoph Roberto Esposito formuliert unser Verhältnis zur Gemeinschaft als Paradox: »Das, was die Menschen miteinander teilen, ist genau ihr Unvermögen, die Gemeinschaft zu bilden, die sie bereits sind.« Das sollte uns keine Ruhe lassen.

Mehr über Individualität und Zugehörigkeit lesen:
Martin Hartmann, Claus Offe: Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Campus 2001
Ulrich Linse: Zurück o Mensch, zur Mutter Erde, dtv 1987